Das Haus der jüdischen Familie Hattendorf

Schloßstraße 16, 26180 Rastede

Die Familie Hattendorf

Karl und Klara Hattendorf wohnten mit der Tochter Selma und deren Sohn Henry (Hinrich) in der Schloßstraße. Karl Hattendorf war Schlachter. Die Schlachterei mit Verkauf befand sich hinter dem Wohnhaus. Selma Hattendorf war nicht die leibliche Tochter von Karl Hattendorf. Da ihr leiblicher Vater ein „Arier“ war, galt Selma als „Halbjüdin“. Sie war bei der Volksbank Rastede angestellt.

Die Eltern von Klara Hattendorf, Abraham und Henriette Cohn, lebten seit 1865 in Rastede. Abraham Cohn hatte die Schlachterei in der Schloßstraße gegründet, die sein Schwiegersohn Karl Hattendorf dann übernahm.

  • Name: Karl Hattendorf
  • Geburtsdatum: 25.02.1870
  • Geburtsort: Osternburg
  • Beruf: Schlachter
  • Ehefrau: Klara Hattendorf, geb. Cohn
  • Kind: Selma Henriette Hattendorf (Stieftochter)
  • Todesdatum: 13.08.1942
  • Todesort: KZ Theresienstadt
  • Name: Klara Hattendorf, geb. Cohn
  • Geburtsdatum: 28.01.1871
  • Geburtsort: Rastede
  • Ehemann: Karl Hattendorf
  • Kind: Selma Henriette Hattendorf
  • Todesdatum: 18.10.1942
  • Todesort: KZ Theresienstadt
  • Name: Selma Henriette Hattendorf
  • Geburtsdatum: 24.06.1905
  • Geburtsort: Bremen
  • Beruf: Büroangestellte; Verkäuferin
  • Kind: Hinrich Ernst Hattendorf
  • Todesdatum: 1994
  • Todesort: Schwelm (Westfalen)
Ehepaar Klara und Karl Hattendorf im August 1932 anlässlich ihrer silbernen Hochzeit

Vahlenkamp, Werner: Von der Achtung zur Ächtung: Die Geschichte der Rasteder Juden. 1989, S. 59f. (Das Buch kann in der Gemeindebücherei Rastede ausgeliehen werden.)

Nachlass von Selma Hattendorf

Diskriminierung und Ausgrenzung

Nach der Machtergreifung im März 1933 wurden auch in Rastede rasch anti-jüdischen Maßnahmen ergriffen. Selma Hattendorf wurde von ihrem Arbeitgeber, der Rasteder Volksbank, mit Verweis auf ihre jüdische Abstammung zum 1. April 1933 gekündigt.

Im Zuge des „Judenboykotts“ am 1. April 1933 wurde der Verkauf an der Schlachterei von Karl Hattendorf von SA-Männern umstellt, so dass sich niemand hinein traute. Ab diesem Zeitpunkt gingen die Verkäufe der Schlachterei rasch zurück.

Selma Hattendorf fand in Rastede keine Anstellung mehr. Sie war etwa ein Jahr ohne Arbeit, dann wurde sie in Oldenburg in einem jüdischen Geschäft als Verkäuferin angestellt.

Nachdem bereits im Frühjahr 1933 die sogenannten „Volljuden“ aus dem Rasteder Turnverein ausgeschlossen waren, folgte im Frühjahr 1934 der Ausschluss der als „Halbjüdin“geltenden Selma Hattendorf.


Vahlenkamp, Werner: Von der Achtung zur Ächtung: Die Geschichte der Rasteder Juden. 1989, S. 30f. (Das Buch kann in der Gemeindebücherei Rastede ausgeliehen werden.)

Nachlass von Selma Hattendorf

Verfolgung und Vertreibung aus Rastede

Bis 1938 waren fast alle jüdischen Menschen aus Rastede weggezogen, einige waren bereits ganz aus Deutschland emigriert. Karl und Klara Hattendorf hatten jedoch nicht genug Geld, um auszuwandern. Ihre Schlachterei hatten sie schließen müssen. Inzwischen lebte die ganze Familie von dem Gehalt, das die Tochter Selma als Verkäuferin verdiente. Da sich die Situation für jüdische Menschen immer weiter verschärfte, trat Selma Hattendorf 1938 aus der jüdischen Religionsgemeinschaft aus.

Am 10. November 1938 wurden Karl und Klara Hattendorf anlässlich der Reichspogromnacht von SA-Männern verhaftet. Karl wurde morgens abgeholt und über das Oldenburger Gerichtsgefängnis ins KZ Sachsenhausen gebracht. Klara Hattendorf wurde etwas später ebenfalls verhaftet. Während sie am selben Tag wieder nach Hause konnte, musste Karl Hattendorf mehrere Wochen im Konzentrationslager Sachsenhausen verbringen. Nach seiner Freilassung sah man ihm deutlich an, was er durchlitten hatte. Er sprach jedoch nie darüber, was ihm im KZ passiert war.

Im Jahr 1940 wurde das Ammerland „judenfrei“ gemacht. Die noch verbliebenen jüdischen Bürger*innen der Gemeinde Rastede wurden nach Hamburg ausgewiesen. Ihr Eigentum mussten sie „abtreten“, um einen Platz in einem heruntergekommenen Massenquartier zu erhalten. Selma Hattendorf begleitete ihre Eltern am 5. Mai 1940 zum Bahnhof. Danach musste sie Rastede ebenfalls verlassen. Als „Halbjüdin“ konnte sich ihren neuen Wohnort aussuchen. Mit ihrem 12 Jahre alten Sohn Henry (Hinrich) zog sie nach Westfalen.


Vahlenkamp, Werner: Von der Achtung zur Ächtung: Die Geschichte der Rasteder Juden. 1989, S. 45f. (Das Buch kann in der Gemeindebücherei Rastede ausgeliehen werden.)

Nachlass von Selma Hattendorf

Erinnerungen der Zeitzeugin Frau Lehners aus Rastede

Karl und Klara Hattendorf lebten in dem Wohnhaus in der Rasteder Schloßstraße, welches heute die Hausnummer 16 hat. Frau Lehners aus Rastede wohnte mit ihren Eltern im Haus nebenan. Sie berichtet, dass sich neben dem Wohnhaus der Hattendorfs die Schlachterei mit Verkaufsladen befand. Frau Lehners spielte als Kind oft mit Selmas Sohn Henry. Sie erinnert sich, dass sie dabei von den Eltern ermahnt wurden: „Spielt lieber in der Werkstatt, nicht draußen.“ Die Hattendorfs wollten möglichst unauffällig bleiben, auch Henry sollte nicht gesehen werden. Als die Hattendorfs dann eines Tages verschwunden waren, erfuhr Frau Lehners von den Eltern nur: „Die sind abgeholt worden.“ Ansonsten wurde nicht darüber gesprochen. Sie habe als Kind aufgrund des Tonfalls der Eltern und anhand der Stimmung gemerkt, dass sie dazu keine Fragen stellen und nicht darüber sprechen dürfe.

Deportation und Tod von Karl und Klara Hattendorf

Im Sommer 1942 wurden die jüdischen Menschen aus Hamburg „in den Osten“ deportiert. Dass sie genau wussten, dass ihnen dort der Tod bevorsteht, wird in dem letzten Brief von Klara Hattendorf an ihre Tochter Selma deutlich.

Hamburg, d. 10.7.42.

Meine liebe Selma!

In aller Eile teile ich Dir l. S.
mit, daß heute ein großer
Transport weg kommt und
nächste Woche Mittwoch und
Sonnabend wieder, also da sind
wir auch wohl dabei. Wenn

wir uns noch einmal sehn
wollen und den letzten Kuß
und Händedruck geben wollen,
dann müßt Ihr die ersten
Tage schon kommen, muß
mal sehn, ob Ihr vielleicht
ein paar Tage Urlaub bekom
men könnt, alsdann werden
die Tage von den anderen
Tagen abgerechnet. Es ist hier
eine große Aufregung.

Wenn Du l. Selma Butter
u. Zucker bekommen kannst
würde ich mich sehr freuen,
damit wir etwas mitnehmen
können. Also ich habe nicht
viel Zeit, und nehmet, bis
wir uns Wiedersehn herzl.
Grüße u. Küsse von uns
Beiden, besonders von


Deiner Mutter

Grüße bitte alle
Bekannte herzl. von mir.
Kannst auch verschiedene Sachen

mitnehmen, die wir
alle hier lassen müssen.

Dass Klara ihre Tochter in dem Brief um Butter und Zucker bat, zeigt, dass die Hattendorfs in Hamburg nicht genug zu essen hatten. Die jüdischen Menschen litten Hunger und waren schon vor der Deportation geschwächt. Am 19. Juli 1942 wurden Karl und Klara Hattendorf ins KZ Theresienstadt deportiert. Karl starb am 13. August 1942, Klara am 18. Oktober 1942. Die genaue Todesursache ist nicht bekannt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie wie viele andere ältere Menschen im KZ Theresienstadt an Hunger und Schwäche zugrunde gegangen sind.


Vahlenkamp, Werner: Von der Achtung zur Ächtung: Die Geschichte der Rasteder Juden. 1989, S. 46f. (Das Buch kann in der Gemeindebücherei Rastede ausgeliehen werden.)

Nachlass von Selma Hattendorf

Das Schicksal von Selma Hattendorf

Selma Hattendorf lebte mit ihrem Sohn Henry (Hinrich) in Schwelm in Westfalen. Sie arbeitete als Verkäuferin. Im Juli 1943 wurde sie auf behördliche Weisung aus ihrer Arbeitsstelle entfernt und musste in einer einer Altpapier-Großhandlung in Dortmund Zwangsarbeit leisten. Außerdem musste sie den sogenannten Judenstern tragen. Das Abzeichen aus gelbem Stoff in Form eines sechseckigen Sterns mit der Aufschrift „Jude“ musste gut sichtbar von allen Menschen jüdischer Herkunft getragen werden, damit sie sofort als solche erkennbar waren.

Foto von Selma Hattendorf aus einer persönlichen „Kennkarte“, Typ „J“ (für Jude), des Deutschen Reichs, ausgestellt 1943 von der Polizei Schwelm
„Judenstern“ aus dem Nachlass von Selma Hattendorf

Im September 1944 musste Selma Hattendorf ihre Wohnstätte in Schwelm verlassen. Sie wurde in ein Zwangsarbeitslager in Kassel-Bettenhausen eingewiesen. Am 22. April 1945 wurde das Lager durch einrückende US-Amerikaner befreit. Sie heiratete 1950 und lebte bis zu Ihrem Tod im Jahr 1994 in Schwelm.

Zum Nachlass von Selma Hattendorf gehört auch ein gerahmtes Foto von ihrer Mutter Klara Hattendorf mit einer Abschrift des Gedichtes „Meine Mutter starb in Theresienstadt“ von Walter Maas.


Nachlass von Selma Hattendorf

Meine Mutter starb in Theresienstadt

von Walter Maas

Des Hauptes Schnee wob um dich einen hellen Schein
In jener Stunde, da wir von dir schieden.
Und unsre zagen Herzen hüllt er tröstend ein,
Die wir voll Scheu den Blick auf deine Schmerzen mieden.

Du riefst nach uns, du zehrtest noch vom Hoffen,
Dass Menschenbrust erfüllt, solang sie atmet – lebt,
Du sahst voll Zuversicht die Tore offen,
Vor deren Anblick du im Innersten erbebt.

Wir haben diesen Schein in uns getragen,
der an dem schwachen, gebeugten Leibe niederfloss,
Seit jenen schweren, trauervollen Tagen,
da sich die Türe zwischen uns für immer schloss.

Du gingest hindurch, wenn auch die Riegel unbeweglich standen,
Als deine zarte Hülle, die du trugst, verging,
Dein Geist sich endlich löste aus den Banden
Der gnadenlosen Henker. – Da geschah’s dass dich empfing

Der Friede, den nur Gott schenkt seinem Kinde!
Dein Grab? Die Asche verstreuten sie in alle Winde.

Das Haus in der Schloßstraße 16

Erinnerungen der Zeitzeugin Frau Lehners aus Rastede

Frau Lehners stellte Information über das Wohnhaus der Hattendorfs in der Schloßstaße zur Verfügung, welche von der Rastederin Charlotte Uhlhorn-Bölts im Juni 2010 aus dem Brandkassenregister und anderen Quellen zusammengestellt wurden. Demzufolge wurde das Haus 1907 erbaut und gehörte der Familie Cohn, es war also das Elternhaus von Klara Hattendorf, geb. Cohn. Seit 1918 gehörte das Haus Karl und Klara Hattendorf. 1942 hieß der neue Eigentümer von Nethen. 1953 wurde das Haus an die Familie zurückgegeben. Die Tochter Selma, die inzwischen mit Nachnamen Caesar hieß, verkaufte das Haus 1954 an Karl Schulz, der dort ein Versicherungsbüro führte. Heute wird es wieder als Wohnhaus genutzt.